Gefangen im eigenen Körper
Es ist ein Donnerstag im April des Jahres 2013, als den 52-jährigen Tomas Gerlach bei seiner Arbeit im UKE ein doppelter Schlaganfall ereilt. Plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Fast ein Jahr lang verbringt der Intensivpfleger komplett gelähmt – ohne sich seinem Umfeld mitteilen zu können. In einem mühsamen Prozess erkämpft er sich seine Eigenständigkeit zurück.
Leben retten. Das ist Teil des Berufs von Tomas Gerlach. Als Anästhesie- und Intensivpfleger versorgt er im UKE Schwerstkranke, darunter auch Menschen, die gerade einen Schlaganfall erlitten haben. Als ihm während eines Anrufs einer Kollegin, die ihn zu einem Einsatz ruft, schwindlig wird, er nicht mehr richtig sprechen kann, schwant ihm bereits, dass etwas nicht stimmt. Auch die Kollegin schlägt Alarm. Gemeinsam mit anderen Kollegen rennt sie zum Bereitschaftszimmer.
Tomas Gerlach liegt regungslos am Boden, seine Kollegen bringen ihn sofort in die intensivmedizinische Betreuung. Umgehend werden Computer- und Magnetresonanztomographien durchgeführt. Diagnose: Schlaganfall. Mit Anfang 50. Blutgerinnungshemmende Mittel helfen ihm, kurzzeitig das Bewusstsein wiederzuerlangen. Doch in der darauffolgenden Nacht erleidet er einen zweiten Anfall.
Die Hoffnung nicht aufgeben
Danach kann Tomas Gerlach keine einzige Gliedmaße mehr bewegen, auch den Kopf nicht. Wie im Koma liegt er in seinem Bett und zeigt keine Regung. Doch Anja Gerlach kennt ihren Mann gut – und sie verfügt als Pflegewissenschaftlerin selbst über medizinisches Wissen. „Wenn ich den Raum betrat, hat er auf meinen Besuch reagiert. Ich konnte auch an den angeschlossenen Geräten sehen, dass sein Puls beschleunigt.“
Nach weiteren Untersuchungen wird klar: Tomas Gerlach ist bei Bewusstsein. Er hat aber keinerlei Möglichkeit, seine Gedanken mitzuteilen. „Locked-in-Syndrom“ heißt die seltene Erkrankung, bei der ein Patient wach ist, sein Körper sich jedoch in kompletter Lähmung befindet. „Ich habe alles gehört, was gesprochen wird, doch ich konnte in keiner Weise reagieren“, berichtet Tomas Gerlach. Niemand kann erahnen, wie er es geschafft hat, diese Situation zu überdauern, monatelang. „Das Schlimmste ist, wenn es an der Nase kitzelt und man an nichts anderes denken kann als daran, sich dort zu kratzen“, sagt Tomas Gerlach jetzt, fünf Jahre später. „Doch ich weiß nun: Dieses Gefühl verschwindet auch wieder, wenn man nicht kratzt. Irgendwann ist es weg.“ Geduld – das ist vielleicht das Wichtigste, das er lernen musste. „Und nicht aufzugeben, auch wenn es überhaupt nicht gut aussieht!“, sagt er.
Mit Augenbewegungen kommunizieren
Nach einigen Wochen wird Tomas Gerlach in eine auf Frührehabilitationen spezialisierte Fachklinik verlegt. Dort arbeiten Physio- und Ergotherapeuten, Ärzte und Pflegekräfte mit Hochdruck daran, seinen Zustand zu verbessern. Als er nach mehreren Monaten die Augen wieder öffnen kann, merkt seine Frau: Er kann sehen, kann seine Augen bewegen. Sie bringt eine Buchstabentafel mit, damit er Wörter diktieren kann. „Es ist sehr mühsam, etwas Buchstabe für Buchstabe zu diktieren“, erinnert sich Tomas Gerlach. „Pupillen nach oben und nach unten für die richtige Zeile. Pupillen nach links und rechts für den falschen Buchstaben. Dann wieder nach oben und unten für den richtigen Buchstaben.“
Bis heute verfolgt ihn aus dieser Zeit das Gefühl, missverstanden zu werden, weil Menschen ihm nicht richtig zuhören. „Manchmal habe ich etwas diktiert, aber die bereits gefundenen Buchstaben wurden nicht aufgeschrieben und dann musste ich wieder von vorne anfangen. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren!“ Immerhin kann Tomas Gerlach sich fortan rudimentär mitteilen, angeben, wo er Schmerzen hat, was er braucht. Moderne Hilfsmittel erleichtern ihm bald die Kommunikation. Ein Computer fängt seine Augenbewegungen mittels einer Spezialbrille auf. Zähes Training zeigt minimale Wirkungen: Der linke Zeigefinger lässt sich bewegen, die linke Schulter. Tomas Gerlach muss alles wieder lernen, zu schlucken, zu essen und – später – auch wieder zu sprechen.
Zurück ins Leben
Nach elf Monaten wird er aus der Klinik entlassen. Die Ärzte empfehlen ein Pflegeheim. Doch das kommt für das Ehepaar nicht in Frage. Die gemeinsame Wohnung im zweiten Stock kann Tomas Gerlach aber im Rollstuhl nicht mehr erreichen. Seine Frau mietet eine andere Wohnung im gleichen Haus in Hamburg-Volksdorf, im Erdgeschoss, und holt ihn dorthin. Die beiden tun alles, um wieder ein Leben führen zu können, ihr Leben. Beim regelmäßigen Training im Reha-Zentrum versucht Tomas Gerlach, seine Beinmuskulatur zu reaktivieren. Ohne intensive Unterstützung geht es jedoch nicht: Rund um die Uhr helfen ihm persönliche Assistenten durch den oft beschwerlichen Alltag.
Im Herbst 2018 geht für Tomas Gerlach ein großer Wunsch in Erfüllung: Er kehrt an seine Arbeitsstelle zurück. Sein früherer Vorgesetzter hat sich dafür stark gemacht, dass er in der Fortbildungskoordination des Teams wieder einsteigen kann. „Es lag mir sehr am Herzen, dass ein Kollege mit so viel Know-how durch den Job einen weiteren Schritt zurück ins Leben gehen kann“, sagt Frank Sieberns, Pflegerischer Zentrumsleiter der Kliniken für Anästhesiologie und Intensivmedizin.
Die Arbeit am Computer fällt Tomas Gerlach nicht leicht; er steuert die Tastatur über eine Spezialvorrichtung am Rollstuhl. Dennoch: „Ich bin wahrscheinlich der Mitarbeiter im UKE, der sich am meisten freut, morgens zur Arbeit kommen zu dürfen“, betont er. Neue Eindrücke zu sammeln, den Kontakt zu den Kollegen wieder herzustellen – Arbeit bedeutet für ihn vor allem Teilhabe und das Gefühl, etwas bewirken zu können. Für Tomas Gerlach ist klar: „Egal, welche Erkrankung man hat – es lohnt sich immer, zu kämpfen!“
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